Liturgische Bildung fehlt

Quelle: FSSPX Aktuell

Desiderio desideravi: So heißt das nach seinen lateinischen Anfangsworten genannte Apostolisches Schreiben zur Liturgie, das Papst Franziskus am Fest Peter und Paul veröffentlichte. Er führt also den Vers des Lukasevangeliums an: „Voll Sehnsucht hat mich danach verlangt, dieses Pascha mit euch zu essen, ehe ich leide.“ (22,15)

Das Schreiben „über die liturgische Bildung“ scheint der Versuch einer Rechtfertigung des Motu proprio Traditionis custodes zu sein, mit dem der Pontifex am 16. Juli 2021 versuchte, die alte Messe zu unterdrücken. Es wird nämlich direkt im ersten Abschnitt genannt.

Die 65 Abschnitte des Briefes sind aber eher eine Meditation. Der Brief enthält keine Anweisungen oder Gesetze, sondern will nur „einige Denkanstöße geben“.

Allerdings behauptet Franziskus erneut, dass

die von den heiligen Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgierten liturgischen Bücher […] die einzige Ausdrucksform der Lex orandi des Römischen Ritus [sind].

Der US-amerikanische Priester John Zuhlsdorf kommentiert auf seinem Blog das Papstschreiben wie folgt: 

Der Brief ist eindeutig ein Pasticcio, zusammengestellt aus verschiedenen Autoren und vielleicht Entwürfen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht das Licht der Welt erblickt haben. Die Stimmen wechseln, die Rechtschreibung ist uneinheitlich, und es gibt von Abschnitt zu Abschnitt große Unterschiede in der Qualität der Gedanken. Einige Stellen erinnern an das, was Kardinal Sarah schreiben könnte. Andere stammen eher aus dem Lager von Roche (dem derzeitigen Präfekten für den Gottesdienst und unverbesserlichen Feind der überlieferten Liturgie), mit ihrem verräterischen Geschwätz über ‚geweihte Amtsträger‘ anstelle von ‚Priestern‘, ein Überbleibsel von Autoren wie Schillebeeckx und dunkleren Zeiten. Außerdem ist der Brief in keiner Weise für irgendjemanden verbindlich. Er verkündet oder befiehlt nicht.  Er enthält die behaupteten Gedanken von Franziskus (wie sie auch von anderen geschrieben worden sein mögen). Es fällt mir nicht leicht, daraus zu schließen, dass Franziskus all die Dinge denkt, die in diesem Brief stehen. Aber er hat ihn unterschrieben, also ist es sein Brief. Jemand wie Papa Ratzinger hat jahrzehntelang über Liturgie nachgedacht. Ich könnte glauben, dass die Überlegungen zur liturgischen Bildung, die er unterzeichnet hat, von ihm stammen. Aber von einem Jesuiten, der bekanntlich nicht liturgisch ist?  Die Quintessenz ist, dass die Quintessenz von ihm ist: Dort steht seine Unterschrift, also sagen wir, dass das, was da steht, von Franziskus ist, auch wenn es eindeutig verschiedene Autoren gibt und es innere Widersprüche gibt.

In Abschnitt 61 behauptet Papst Franziskus:

Wir können „nicht zu jener rituellen Form zurückkehren, die die Konzilsväter  cum Petro und sub Petro  für reformbedürftig hielten, indem sie unter der Führung des Geistes und nach ihrem Gewissen als Hirten die Grundsätze billigten, aus denen die Reform hervorging. Die heiligen Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. haben die revidierten liturgischen Bücher per Dekret  Sacrosancti Œcumenici Concilii Vaticani II  genehmigt und damit die Treue der Reform zum Konzil garantiert.

John Zuhlsdorf, der einige Zeit als Kurienbeamter für die Kommission Ecclesia Dei im Vatikan gearbeitet hat, stellt dagegen fest:

Das Problem dabei ist, dass der Novus Ordo nicht mit dem eigentlichen Text von Sacrosanctum Concilium übereinstimmt. Um den Novus Ordo aus dem Konzil herauszupressen, muss man behaupten, dass es einen ungeschriebenen ‚Geist‘ des Konzils gibt, den man erkennen kann. Das grenzt an den Gnostizismus, den Franziskus immer wieder und auch in diesem Brief kritisiert. Die Konzilsväter haben den Novus Ordo NICHT abgesegnet.  Sie haben konkrete Vorgaben gemacht, die bei der künstlichen Ausgestaltung des Novus Ordo völlig missachtet wurden.

John Zuhldorf mahnt die traditionalistischen Leser verschiedener Sensibilitäten zu einer ausgewogenen Beurteilung des Papstschreibens:

Es gibt gute Dinge in dem Brief. Es gibt schlechte Dinge in dem Brief. … Bleiben Sie ruhig! … Dieser Brief ist nicht so schlecht wie eine schlechte Predigt oder ein Rat im Beichtstuhl. Er hat sehr schöne Passagen, unabhängig davon, wer sie verfasst hat und in welchem Kontext man sie liest. Mit Ausnahme gewisser Verweise auf das ‚Pascha-Geheimnis‘ denke ich, dass es hier viel gibt, was sogar Priester der Priesterbruderschaft St. Pius X. gutheißen werden und gerne unterschreiben können!

Wer wird dem Aufruf zur Fairness gegenüber einer Äußerung des Obersten Hirten widersprechen können? Aber genau die jeder Fairness zugrundeliegende Wahrheitsliebe berechtigt – und verpflichtet – zum Widerspruch.

Es sei deshalb ein Satz aus Abschnitt 31 von Desiderio desideravi angeführt:

Es wäre banal, die Spannungen, die es leider rund um die [gottesdienstliche] Feier gibt, als einfache Unterschiede zwischen verschiedenen Empfindungen gegenüber einer rituellen Form zu deuten. Die Problematik ist in erster Linie ekklesiologischer Natur. Ich verstehe nicht, wie man sagen kann, dass man die Gültigkeit des Konzils anerkennt – obwohl ich mich ein wenig wundere, dass ein Katholik sich anmaßen kann, dies nicht zu tun – und nicht die Liturgiereform akzeptieren kann, die aus  Sacrosanctum Concilium  hervorgegangen ist und die die Realität der Liturgie in enger Verbindung mit der Vision der Kirche zum Ausdruck bringt, die in  Lumen Gentium  auf bewundernswerte Weise beschrieben wurde.

Der Liturgiewissenschaftler Matthew Hazell kommentiert dieses „Autoritätsargument“ auf dem Blog Rorate-caeli:

Wie wir oben in DD 31 sehen, scheint er (oder ist es die Hand des Ghostwriters Grillo?) unter dem Eindruck zu arbeiten, dass die nachkonziliaren liturgischen Reformen absolut identisch mit den Absichten der Konzilsväter und damit mit dem Konzil selbst sind. Zumindest wird ein nüchtern-positivistischer Versuch unternommen, jeden davon zu überzeugen, dass dies der Fall ist, indem man es einfach so behauptet. Die Fakten müssen also ganz klar gesagt werden: Das Concilium Vaticanum Secundum ist nicht das Consilium ad exsequendam. Es gibt eine klare und völlig legitime Unterscheidung zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und den in seinem Namen durchgeführten Reformen. Die Arbeit des Konzils in Frage zu stellen oder sie einer eingehenden kritischen Prüfung zu unterziehen, ist keineswegs eine ‚Leugnung‘ oder ‚Nichtannahme‘ des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wo bleibt denn sonst der Vorgänger von Franziskus?

Hazell führt eine Reihe von Stellungnahmen von Josef Ratzinger/Benedikt XVI. an, den er als eigentliche Zielscheibe von Traditionis custodes und Desidero desideravi wahrnimmt.

In Anbetracht der derzeit modischen Anti-Ratzinger-Haltung in Rom ist es jedoch merkwürdig, dass kein Geringerer als Romano Guardini, dessen Buch Vom Geist der Liturgie Ratzingers eigenes Buch Der Geist der Liturgie inspirierte, in Desiderio desideravi viermal zitiert wird (Nr. 34 [zweimal], 44, 50). Und welche Meinung hatte Guardini vor seinem Tod 1968 zu den Liturgiereformen? ‚Klempnerarbeit‘ - verpfuschte Arbeit! Nun, wer sind wir, einem der Väter der Liturgischen Bewegung zu widersprechen?

Zusammenfassend stellt Hazell fest: 

Mehr als alles andere ist Desiderio desideravi jedoch ein klares Eingeständnis des Scheiterns der liturgischen Reformen nach dem Zweiten Vatikanum. Wenn ein Ritus, der speziell für den ‚modernen Menschen‘ reformiert wurde, der zugänglicher, klarer, didaktischer und leichter zu verstehen ist, der von allen unnötigen Symbolen und Wiederholungen befreit und ganz in Volkssprachen und volkstümliche Gesänge gekleidet ist, nicht dazu geführt hat, dass die christlichen Gläubigen ‚durch und durch vom Geist und von der Kraft der Liturgie durchdrungen sind‘ (Sacrosanctum Concilium 14), waren dann die nachkonziliaren Liturgiereformen nicht eine kolossale Zeitverschwendung? Der Papst selbst spielt auf diesen Misserfolg an: ‚Die grundlegende Frage lautet daher: Wie können wir die Fähigkeit wiedererlangen, die liturgische Handlung vollständig zu leben? Das war das Ziel der Reform des Konzils‘ (Desiderio desideravi 27). Wenn dieses Ziel mehr als 50 Jahre später vom Novus Ordo nicht erreicht wurde, wird es dann jemals erreicht werden?