Gedanken zum Begriff „Abendland“

Quelle: FSSPX Aktuell

„Abendland“? Angesichts des russischen Krieges in der Ukraine wird wieder viel von „Geopolitik“, von „nationaler Identität“ und West-Ost-Konflikten gesprochen. Auch der Begriff der europäisch-abendländischen Kultur wird beschworen. 

Was meint der Begriff Abendland eigentlich? 

Pius XII. hat in einem bemerkenswerten Schreiben aus dem Jahr 1955 an den Augsburger Bischof Joseph Freundorfer (1894 – 1963) einige grundsätzliche Überlegungen angestellt:

Die katholische Kirche ist nicht eins mit der abendländischen Kultur. Sie macht sich überhaupt nicht eins mit irgend einer Kultur; wohl aber ist sie bereit, mit jeder Kultur einen Bund zu schließen: sie erkennt gerne an, was in jeder dem Werk des Schöpfers nicht widersprechend, was mit der Würde des Menschen und seinen naturgegebenen Rechten und Pflichten vereinbar ist, pflanzt aber darüber hinaus den Reichtum der Wahrheit und Gnade Jesu Christi in sie ein und erreicht dadurch, dass die verschiedenen Kulturen, so fremd sie sich gegenüberzustehen schienen, einander nahe kommen und wirklich Schwestern werden. Die Geschichte der Mission und Ausbreitung des Christentums und der Kirche von den Zeiten der Völkerwanderung bis heute ist ein überzeugender Beweis für den Segen, der von der katholischen Kirche auf die Kulturen ausgeht. In diesem Sinne ist auch die Kirche für die Erneuerung und Stärkung der abendländischen Kultur. 

Damit ist schon ausgesprochen, worin die Erneuerung der abendländischen Kultur beschlossen liegt; eben darin, dass der abendländische Mensch die Wahrheit und Gnade Christi von neuem bejaht, bekennt, in sich aufnimmt und zur lebendigen Grundlage des gesamten Daseins macht. In der Auseinandersetzung mit der neuen Lebensform des materialistischen Ostens behauptet das Abendland, für die Menschenwürde und die Menschenrechte, an erster Stelle für die Freiheit des Einzelnen einzustehen. Er möge aber nicht übersehen, dass die Würde und die Rechte des Menschen — seine persönliche Freiheit ganz besonders — sich gegen ihn wenden, ja dass sie sich selbst aufheben, wenn sie nicht genommen werden in Einheit mit den Bindungen, den Pflichten, mit denen die Ordnung der Natur wie der Gnade sie unlöslich verknüpft hat und die im Gebot Gottes und Gesetz Christi dem Menschen entgegentreten.

Pius XII. weiter in dem Brief an den Augsburger Bischof:  

Der Augsburger Religionsfriedens …  besiegelte die religiöse Spaltung Deutschlands. Das Gemeinwohl des Reiches wie der Kirche, für die es um Sein oder Nichtsein innerhalb der deutschen Grenzen ging, rechtfertigte die Unterschrift der katholischen Fürsten unter den Religionsvertrag. Man wird es Uns aber nicht verdenken, wenn Wir im Bruch der religiösen Einheit Deutschlands und Europas das schwerste Verhängnis erblicken, welches das christliche Abendland und seine Kultur treffen konnten. Dürfen Wir in Erinnerung an jenen Tag der Hoffnung Ausdruck verleihen, der Weg, den die Göttliche Vorsehung das Abendland weist, möge wieder mehr und mehr an die verlorene Einheit heranführen? Denn Wir können nicht umhin, für das Abendland zu wiederholen, was Wir … von der europäischen Kultur erklärten, dass sie nämlich unverfälscht christlich und katholisch sein, oder aber verzehrt werden wird vom Steppenbrand jener anderen materialistischen, der nur die Masse und die rein physische Gewalt etwas gelten.