Die alte Messe geht nicht unter - Ein Kommentar

Quelle: FSSPX Aktuell

Feierliches Fünfherrenamt in der Minoritenkirche

Was ist das wirkmächtigste Buch der abendländischen Geschichte? Die Antwort wird, je nach bildungsbürgerlichem Horizont des Lesers, sehr unterschiedlich ausfallen. Eine belastbare Antwort wird aber vielleicht verblüffen: das lateinische Messbuch.  

Wofür wurden die großen Kathedralen der Gotik gebaut? Wozu die romanischen Kirchen, woher der geheime Plan der mittelalterlichen Städte? Woraus speisen sich die Motive für die sakrale Malerei vieler Jahrhunderte, die atemberaubende Schönheit der Kirchenmusik, für die gedanklichen Höhen der christlichen Dichtung. Es war der Gottesdienst, es war die lateinische Messe, die Europa gemacht hat und die von Papst Gregor dem Großen im 6. Jahrhundert bis Johannes XIII. im 20. Jahrhundert der vorzüglichste Ausdruck der christlichen Gottesverehrung war.

Warum lateinisch?  

Weil Latain katholisch ist. Nicht die Sprache eines Volkes, nicht die Sprache meines Volkes. Latein geht unserer Sprache voraus, ja es geht unserer Zeit voraus. Die lateinische Sprache fixiert den Sinn, sie verbindet die Völker und Kulturen und umgreift die Epochen. Die in einem gewissen Sinn sakrale Sprache erinnert daran, dass die heilige Messe der Katholiken kein Textvortrag ist, sondern eine reale Vergegenwärtigung des größten Augenblicks der Menschheit. Das Sterben des Gottmenschen Jesus Christus wird auf den Altären gefeiert. Golgatha ist real. Jeden Tag.

Die Messe schuf eine globale Kultur 

Tatsächlich, die Messe war auch der große Zankapfel zwischen der Reformation und der alten Kirche. Für Luther und Calvin war der Gottesdienst der altgläubigen Katholiken eine „vermaledeite Abgötterei“ – und trotzdem schuf dieser Grundvollzug des katholischen Glaubens eine globale Kultur, die auch in die Neue Welt ausgegriffen hat.

Barocke Glaubenslust fand sich von Wien bis in die Jesuitenreduktionen der Neuen Welt. Die lateinische Messe prägte Räume, heiligte die Zeiten, formte das Denken, adelte die menschlichen Beziehungen. Das Leben des Abendlandes war wesentlich liturgisch geprägt.

Das Schönste auf dieser Seite des Himmels 

Ein großer englischer Konvertit und Denker der Neuzeit nannte den in der Substanz unveränderten katholischen Gottesdienst „das Schönste auf dieser Seite des Himmels“.  

Die lateinische Messe – sie ist vielen nach dem Jahr 1970 Geborenen kaum noch bekannt, vielleicht nur noch gespiegelt in den kulturellen Potenzen, die sie hervorgebracht hat. Dabei war sie den katholischen Generationen der letzten tausend Jahre zuvor das Wichtigste im christlichen Leben.  

Das komplexe Zusammenspiel der Riten, der Gesänge, der Worte – aus ihm entsprangen die großen Gedankengebäude der Theologie, die um die Begriffe der Anbetung, der Sühne, der Danksagung und des Betens kreisten. 

Oberflächliche Beurteilung

In den Jahren, die wir heute als die 68er-Zeit beschreiben, kam es in der Katholischen Kirche zu einer umfassenden Veränderung des Gottesdienstes. Über das Ergebnis wurde viel gestritten. Die älteren Katholiken verbinden das zumeist mit dem Überbordwerfen der lateinischen Sprache, mit der Kommunionspendung in die Hand und im Stehen, mit der Messfeier an Tischen und der Zuwendung des Priesters zum Volk. Volkstümlicher sollte es sein, nicht mehr priesterkonzentriert. Demokratischer also. Zeitgeistiger. Und ökumenischer.

Negativbilanz 

Ist das Ziel erreicht worden? An den Früchten wird man eine Reform erkennen – das ist biblische Weisheit. Wie sieht es heute mit der Messe aus? Wie sieht es mit dem Glauben der Katholiken aus? Ein Blick auf die Statistik der Gottesdienstbesucher und der Glaubensübereinstimmung derselben mit dem Katechismus stimmen nachdenklich. Darüber kann und wird gestritten.

Kulturelle Unterdrückung 

Einer Generation, die heute in den Kirchen den Ton angibt, war der gefühlte „Aufbruch“ des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) zu neuen Ufern ein Akt der Befreiung, so wie es 1968 für die Moral, die Erziehung oder die gesellschaftlichen Verhältnisse war. Das führte zu der Haltung der kulturellen Unterdrückung. Die alte Messe sollte verschwinden. Sie war totgesagt.

Und doch lebt sie. Man könnte sagen, sie erwacht in den Seelen. In Frankreich geschieht mittlerweile ein Drittel der Berufungen im Umfeld der alten lateinischen Messe. In England musste vor wenigen Tagen ein Diözesanbischof zugeben: 80 % meiner jungen Priester möchten die alte lateinische Messe.

Benedikt XVI. hat dieses Phänomen einer substantiell wachsenden Anhängerschaft der alten Messe erkannt und versuchte mit einer weitgehenden Erlaubnis Frieden zu schaffen.

Liturgie spaltet die Geister 

Mit Papst Franziskus kommt es zu einem Roll-Back. Er stellt fest: Die unterschiedlichen Auffassungen über die Liturgie korrelieren mit unterschiedlichen theologischen Auffassungen. Der Vorwurf der „Spaltung“ steht wieder im Raum. Aber ist der Pluralismus sonst nicht gewollt? 

Papst Benedikt XVI schrieb 2007 über den „positiven Grund“ seiner Wiedererlaubnis der alten lateinischen Messe:

Es geht um eine innere Versöhnung in der Kirche. In der Rückschau auf die Spaltungen, die den Leib Christi im Lauf der Jahrhunderte verwundet haben, entsteht immer wieder der Eindruck, dass in den kritischen Momenten, in denen sich die Spaltung anbahnte, von Seiten der Verantwortlichen in der Kirche nicht genug getan worden ist, um Versöhnung und Einheit zu erhalten oder neu zu gewinnen; dass Versäumnisse in der Kirche mit schuld daran sind, dass Spaltungen sich verfestigen konnten. Diese Rückschau legt uns heute eine Verpflichtung auf, alle Anstrengungen zu unternehmen, um all denen das Verbleiben in der Einheit oder das neue Finden zu ihr zu ermöglichen, die wirklich Sehnsucht nach Einheit tragen.

Kritiker der Reform bestätigt

Der „Synodale Weg“ will die Kirche neu denken und einen neuen Stil einführen. Diesem Anliegen hat der Papst mit der kleinlichen Einschränkung der alten lateinischen Messe keinen Gefallen getan. Im Gegenteil. Der absurde Vorwurf, die 1500 Jahre alte Gottesdienstform sei nicht mehr authentischer Ausdruck des katholischen Glaubens, bestätigt sogar die größten Kritiker der Liturgiereform.

Erzbischof Marcel Lefebvre (1905–1991) darf sich posthum bestätigt fühlen. Die von diesem greisen französischen Erzbischof, den der Wiener Nuntius Donato Squicciarini (1927–2006) einmal „eine der größten Missionarsgestalten der Kirchengeschichte“ genannt hat, gegründete Priesterkongregation hat jetzt die Seelsorge an der altehrwürdigen Wiener Minoritenkirche übernommen. Der dortige Kardinal war darüber nicht erfreut, aber er ist ein Mann der Toleranz. Wien wird vielleicht zu einem Laboratorium der friedlichen Koexistenz und Befruchtung.

Papst Franziskus scheint nicht gut beraten gewesen zu sein, wenn er mit dem Holzhammer das Problem zu lösen versucht. Qualität setzt sich gewöhnlich durch. Und die alte lateinische Messe ist von erprobter und erwiesener Qualität. Kein theologischer Trend geht immer in die gleiche Richtung. Die römische Kurie dachte früher in Jahrhunderten. Wie sagten die Römer: Morto un papa se ne fa un altro. Frei übersetzt: Päpste kommen und gehen. Das Katholische bleibt. Die alte lateinische Messe ist nicht zeitgeistaffin. Das ist ihre Rettung.

Der Kommentar erschien in der Kirchlichen Umschau (2/2022).